Agentic AI: Wenn Artificial Intelligence nicht nur antwortet, sondern handelt
Veröffentlicht: 30. Juli 2025
Ein Beitrag von Eric Brabänder, CPO, Empolis
Ob Internet, Cloud oder Generative AI – jede technologische Revolution bringt überzogene Erwartungen mit sich. Und doch – so sagt es "Amaras Gesetz": Langfristig haben sie unser Arbeiten, Denken und Leben oft tiefgreifend verändert. Genau in dieser Tradition könnte das neue Hype-Thema „Agentic AI“ stehen – ein neuer Ansatz in der Artificial Intelligence (AI), der nicht nur Fragen beantwortet, sondern eigenständig Aufgaben lösen soll. Kein kurzfristiger Hype, sondern der Beginn einer neuen Ära?
Was ist Agentic AI – und was nicht?
In der Diskussion rund um AI herrscht oft Begriffsverwirrung. Was heute unter AI im Allgemeinen firmiert, reicht von regelbasierten Expertensystemen über Machine Learning bis hin zu generativen Verfahren mit Sprachmodellen, wie bspw. ChatGPT. Doch Agentic AI geht noch einen Schritt weiter: Hierbei handelt es sich um softwarebasierte Agenten, die Ziele verfolgen, Entscheidungen treffen und eigenständig Aktionen ausführen können – ganz ohne ständigen menschlichen Input.
Der entscheidende Unterschied: Während klassische Chatbots oder einfache AI-Assistenten auf Eingaben reagieren, agieren Agenten proaktiv. Sie erkennen selbstständig, was zu tun ist, planen nächste Schritte, greifen auf Tools und Datenquellen zu – und handeln zielorientiert.
Dabei ist "Agentic AI" ein Sammelbegriff für eine ganze Klasse intelligenter Systeme, die agentenähnliches Verhalten zeigen und untereinander interagieren.
Eine anschauliche Darstellung der Unterschiede liefert die untere Grafik: Generative AI erzeugt im Dialogassistent direkt Inhalte aus einem trainierten Modell heraus – beispielsweise Texte oder Bilder – ohne weiteren Kontextbezug. AI Agents hingegen verfolgen aktiv ein definiertes Ziel (z. B. Technische Informationen zu recherchieren und für eine Reparatur die richtige Anleitung auszugeben), nutzen weitere Tools (z. B. Suchverfahren, Wissensdatenbanken, Rückfragen an den Menschen oder Abfragen von Produkteigenschaften) und erzeugen ein verfeinertes Ergebnis.
Agentic AI geht noch einen Schritt weiter: Sie koordiniert mehrere Sub-Agenten, verfügt über Zugriff auf Werkzeuge oder andere Agenten und ein Gedächtnis und ist in der Lage, komplexe Ziele über mehrere Schritte hinweg proaktiv zu verfolgen. Dadurch entsteht ein System, das nicht nur Aufgaben ausführt, sondern eigenständig plant, entscheidet und delegiert. Dieser Übergang von punktueller zur strategischen Prozessunterstützung ist zentral für die industrielle Anwendung. Manche Agentic-AI-Systeme sollen hochautonom arbeiten, andere teilautonom im Zusammenspiel mit dem Menschen. Aber sie alle eint: Sie sollen entlasten, unterstützen und aktiv mitgestalten.

Was braucht es, damit Agenten funktionieren?
Technisch betrachtet, bestehen Agentic-AI-Systeme aus mehreren ineinandergreifenden Komponenten. Sie nehmen Informationen aus ihrer Umgebung auf, verarbeiten diese, treffen Entscheidungen, nutzen Werkzeuge – und führen Handlungen aus. Gleichzeitig müssen sie über sogenannte „Guardrails“ abgesichert sein, um Fehlentscheidungen oder ungewolltes Verhalten oder die Ausgabe von Falschinformationen zu vermeiden. Es geht also immer um ein ausgewogenes Verhältnis von Autonomie und Kontrolle. Solche Agentensysteme könnten also Arbeit abnehmen, Entscheidungen erleichtern und Abläufe effizienter automatisieren.
Diese miteinander interagierenden Agenten sollten möglichst modular gestaltet sein und nicht komplett neu oder selbst entwickelt werden müssen. Insbesondere dann, wenn es bereits etablierte und laufende Systeme, wie ERP-, CRM-, QS- oder Enterprise Knowledge Management-Systeme gibt, in denen Daten, Informationen und Wissen stecken, die für die Entscheidungen und Handlungen der Agenten benötigt werden. Es braucht daher künftig geschäftsfertige Lösungen – am besten modular und per API integrierbar.
Empolis setzt daher auf vorkonfigurierte AI-Apps, die direkt in bestehende ERP- oder CRM-Systeme eingebunden werden können. Diese Apps analysieren etwa Supportanfragen, liefern Produktinformationen, helfen bei der Formulierung von richtigen Lösungen oder bieten interaktive Unterstützung für Wartungsteams und Servicetechniker – mit einem Klick, ohne Schulung.
Von der Theorie zur Praxis: Agenten in der Industrie
Was zunächst nach Science-Fiction klingt, ist heute bereits in einigen Anwendungsbereichen Realität – zum Beispiel im industriellen Kundenservice. Beim Roboterhersteller KUKA etwa hilft ein intelligenter dialogbasierter AI-Agent täglich tausenden Anwendern, technische Probleme effizient zu lösen. Der interaktive und intelligente Dialogassistent ist als Agent umgesetzt und fragt gezielt nach, greift auf freigegebene technische Dokumentation zu und nutzt verschiedene Tools, um zur richtigen Antwort zu kommen. So geht er auf die Suche nach der richtigen Lösung in mehr als 3 Millionen Dokumenten, fragt beim Menschen aktiv nach, wenn er noch nicht alle Informationen hat, um die richtige Antwort zu liefern oder löst die Anfrage nach Produktgruppen und Detailinformationen auf. Der Mensch muss nicht mehr alles selbst wissen – der Agent findet das Wissen für ihn.
Auch im Vertrieb, in der Produktionsplanung, der Wartung oder im Shopfloor sehen wir zunehmend konkrete Einsatzszenarien. Immer dann, wenn Prozesse wiederkehrend, wissensintensiv und zeitkritisch sind, spielen Agenten ihre Stärken aus. Besonders für mittelständische Unternehmen ergibt sich daraus ein enormes Potenzial zur Effizienzsteigerung. Doch welche Erwartungen kann man bereits an völlig autonom agierende Agentic-AI-Systeme stellen?
Vertrauen braucht jedoch Nachvollziehbarkeit – und realistische Erwartungen
Ein zentraler Punkt bei der Einführung von Agentic AI ist neben der einfachen und schnellen Integrationsmöglichkeit auch die Frage nach Sicherheit und Vertrauen. Denn sobald ein System Entscheidungen trifft, muss nachvollziehbar sein, auf welcher Grundlage dies geschieht. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass viele agentenbasierte Systeme heute noch an klaren Schwächen leiden: Sie basieren häufig rein auf LLMs, die zu Halluzinationen neigen, in Endlosschleifen geraten oder fehlerhafte API-Aufrufe tätigen. Der Agent ist dann zwar aktiv, aber nicht zwingend korrekt oder effizient.
Empolis kombiniert deshalb Generative-AI-Verfahren, wie Large Language Models (oben habe ich es Sprachmodell genannt), mit symbolischer AI – etwa durch den Einsatz von Entscheidungsbäumen, Ontologien oder Knowledge Graphen. So lassen sich Antworten nachvollziehen, dokumentieren und mit Quellenverwiesen überprüfen.
Hinzu kommen strukturelle Hürden: Unternehmen benötigen saubere zugreifbare Daten, klare Rollenmodelle und tragfähige Content Governance-Strukturen – sonst bleibt der Agent entweder handlungsunfähig oder wird zum Risiko. In besonders kritischen Bereichen bleibt der Mensch ohnehin „in the loop“. Ob in der Medizintechnik, der Luftfahrt oder der industriellen Instandhaltung – dort, wo Fehlentscheidungen gravierende Folgen haben können, muss die letzte Entscheidung stets durch den Menschen erfolgen und das zugrundeliegende Wissen gesichert verfügbar und nachvollziehbar sein. Ein Agent oder ein agentenbasiertes System sollte vorbereiten, analysieren und Vorschläge machen – aber nie autonom über sicherheitsrelevante Vorgänge bestimmen.
Der wahrgenommene Nutzen vieler Agentic-AI-Projekte liegt daher derzeit oft unter den Erwartungen. Viele Systeme erfüllen nur einen Bruchteil der kommunizierten Ziele. Ein realistischer Blick erkennt: Ohne solide Pilotierung, robuste Governance, klare Business-Kennzahlen und Kontrolle bleiben Agentic-AI‑Projekte oft kostenintensive Experimente statt echte Innovationsmotoren.
Stand der Agentic-AI-Initiativen
Aktuelle Herausforderungen-
Fehlerquoten von noch mehr als 70 % sind keine Seltenheit: https://www.theregister.com/2025/06/29/ai_agents_fail_a_lot/
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Sie sind Experimente oder Proof-of-Concepts: https://www.reuters.com/business/over-40-agentic-ai-projects-will-be-scrapped-by-2027-gartner-says-2025-06-25/
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Aktuelle Modelle sind noch nicht ausgereift genug. Daher werden bis 2027 über 40 % der Projekte im Bereich der agentenbasierten KI aufgrund steigender Kosten, unklarer Geschäftsvorteile oder unzureichender Risikokontrollen eingestellt: https://www.gartner.com/document-reader/document/6478739
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Sie generieren nicht genug Nutzen im Verhältnis zu Aufwand und Kosten: https://arxiv.org/abs/2505.17767
Produktivitätsgewinn – und neue Rollen im Unternehmen
Der Einsatz intelligenter AI-Agenten zeigt jedoch bereits heute messbare Effekte: Unternehmen berichten von bis zu 40 Prozent schnelleren Bearbeitungszeiten im Support, deutlich höheren First-Time-Fix-Rates und einer spürbaren Entlastung der Teams. Und das bereits heute ohne vollumfänglich auf den Hype von Agentic AI zu setzen und dessen Implementierung zu warten.
Noch spannender ist jedoch, wie sich die Rollen verändern. Aus Content-Erstellern werden AI-Kuratoren und Knowledge Engineers. Aus Supportmitarbeitern werden Prozessdesigner, Prompt Optimierer und Content-Validierer. Die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine nimmt neue Formen an.
Agentic AI ist nicht nur Technik – es ist eine Frage der Haltung
Am Ende geht es nicht nur um Software, Digitalisierung und Prozesse. Es geht darum, die richtigen AI-Verfahren optimal und zielgerichtet zu nutzen und zu entscheiden, wie wir in Zukunft in der Mensch-Mensch- und der Mensch-Maschine-Interaktion zusammenarbeiten möchten. Agentic AI eröffnet die Chance, repetitive Aufgaben zu automatisieren, um Raum für Kreativität, neue Aufgabengebiete, strategisches Denken und menschliche Interaktion zu schaffen. Sie ist weder Ersatz noch Gegner – sondern ein intelligenter Begleiter auf dem Weg zu mehr Effizienz und Qualität. In diesem Kontext ist AI eben nicht als „Artificial Intelligence“ zu sehen, die den Menschen ersetzen könnte, sondern als „Augmented Intelligence“, die ihm erweiterte Fähigkeiten gibt.
Fazit
Agentic AI markiert einen weiteren Meilenstein in der Entwicklung von Artificial Intelligence. Sie hebt AI von der reinen Informationsverarbeitung zur aktiven Prozessbeteiligung. Aktuell ist die Umsetzung echter vollumfänglicher Agentic AI jedoch noch in einem frühen Reifegrad. Wer jedoch heute bereits beginnt, sich mit den konkreten Einsatzfeldern einzelner AI-Agenten auseinanderzusetzen, legt den Grundstein für eine spätere Modularisierung und Automatisierung im Rahmen einer umfassenden Agentic-AI-Architektur und stärkt gleichzeitig nachhaltig seine Wettbewerbsfähigkeit – am besten in Bereichen, in denen bereits heute ein messbarer ROI und klare Produktivitätsgewinne entstehen.
Empolis Industrial Knowledge